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Zwölf Monate besuchte der namhafte Gestalter Otl Aicher zahlreiche renommierte Restaurants und schmeckte sich durch die Speisekarten Europas. Er interessierte sich dabei jedoch nicht nur für die Gerichte selbst, sondern vielmehr für die Art der Zubereitung, die Organisation und die Funktionalität der verschiedenen Küchen.

Otl Aicher erntet Kürbisse im heimischen Garten

Er begutachtete sämtliche Küchenwerkzeuge, befragte die Profi-Köche, ob sie Gas- oder Elektroherde bevorzugten, wollte wissen, ob sie ihre Pfannen und Töpfe stapeln oder aufhängen und vermaß die Höhe ihrer Herde, Küchenschränke und Arbeitsflächen. Ergebnis waren ein umfassendes Gutachten darüber, wie die Küche der Zukunft aussehen könnte, und das Buch „Die Küche zum Kochen“.

Grundsteinlegung für neue Wege

Zwei Jahre zuvor bekam Otl Aicher Besuch aus Bodenkirchen. Erst vor Kurzem hatte Gerd Bulthaup die Geschäfte seines Vaters übernommen und machte sich nun - Anfang der 1980er Jahre - daran, alles bis dahin Gewesene in Frage zu stellen und zu revolutionieren. Er überzeugte Otl Aicher, ihn dabei zu unterstützen. Als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Gestalter Deutschlands, der zuvor noch nie Berührung mit dem Thema hatte, war er prädestiniert dafür die Küche neu zu erfinden. Von größter Bedeutung war dabei Otl Aichers Anspruch, etwas wirklich zu verstehen und von allen Seiten zu beleuchten. Wenn Gerd Bulthaup erzählt, wie es war, als er Kontakt mit ihm aufnahm, schwingt in seiner Stimme noch immer die Freude am eigenen Aha-Erlebnis mit. „Otl Aicher fragte mich, ob ich kochen könne. Und als ich verneinte, hat er mir aufgetragen, es zu lernen ehe ich mich daran mache, die Küche zu verändern.“ Otl Aicher gilt als einer der Wegbereiter des Corporate Designs. Der heutige Begriff der visuellen Kommunikation ist auf seine gestalterische Arbeit zurückzuführen und hat das Designempfinden der Nachkriegszeit nachhaltig beeinflusst. Als epochal gilt das System von Piktogrammen, das er für die Olympischen Spiele 1972 in München schuf.

Nachhaltiger Wandel: Die Küche wird zum Lebensraum

Die erste Begegnung der beiden Visionäre war der Beginn einer engen Zusammenarbeit, die über Otl Aichers Tod im Jahre 1991 hinaus die Produktentwicklung von bulthaup bis heute nachhaltig prägt. Sie läutete außerdem die erste nennenswerte Innovation seit der 1926 von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entwickelten Frankfurter Küche ein. Dieser Prototyp der Einbauküche trug den Anforderungen der fortschreitenden Industrialisierung und des Massenwohnungsbaus mit geringem Platzangebot Anfang der 20er Jahre Rechnung: Auf wenige Quadratmeter reduziert und für nur eine Person konzipiert, verlagerte sie das Kochen und die Zubereitung von Speisen auf schmale Zeilen an der Wand. Auch ein halbes Jahrhundert später war diese Form der Einbauküche in modernisierter Form noch in zahlreichen Haushalten zu finden.

Otl Aicher beim gemeinsamen Essen mit Gästen

Basierend auf Otl Aichers Untersuchungen der Lebens- und Essgewohnheiten der Menschen entstand bei bulthaup eine völlig neue Küchenphilosophie: Ehrlichkeit bei Funktion und Materialien sowie Reduktion auf das Wesentliche. Der Genuss, das Kochen sowie das Kommunizieren wurden in den Vordergrund gerückt. „form follows function“, der Gestaltungsleitsatz für Design und Architektur des Weimarer Bauhauses, war seither ausschlaggebend für alle neuen Entwicklungen. Diese Philosophie legte den Grundstein für das, was Küche heute wie im Biedermeier wieder ist: Keine Arbeitszeile an der Wand, sondern ein Raum, in dem sich das Leben abspielt.